STANDPUNKTE

wolfram baltin
Freier Architekt + Stadtplaner BDA SRL DWB
Hans-Sachs-Strasse 1 D-76133 Karlsruhe

  
Standpunkt 2 / 2002
Stadt als Region - Region als Stadt?
(Veröffentlicht in "Der Architekt" Heft 7/2002)


1. Die Sicht der Dinge
"Die Stadt unterscheidet sich von ihrer Umgebung ... durch einen kompakten Siedlungskörper beträchtlicher horizontaler und in ihrem Kern mehr und mehr auch vertikaler Ausdehnung, mit einem meist über lange Zeiten von Menschenhand gestalteten Grund- und Aufriss, der Spiegelbild gestalterischen Willens der für diese Gestalt Verantwortlichen ist." 
Diese (Teil)Definition nach dem Handwörterbuch für Raumordnung beschreibt die historische europäische Stadt, die als Leitbild zum nicht ersetzbaren Teil der Identität von Architekten und Stadtplanern wurde.

Das vor über 30 Jahren erfundene Wort "Regionalstadt" oder auch die Verbindung der Wortgegensätze "Stadt als Region" bleibt dagegen in ihrer räumlichen Ausformung diffus und hat bis heute keine überzeugende Kraft für räumlich - konzeptionelle Phantasie entwickeln können. In der Analyse sprachlicher Feinheiten wird eher noch die "Stadtregion" als die vor und ausserhalb der eigentlichen Stadt liegenden "suburbanisierten" (d.h. auch unter dem Niveau der Stadt besiedelten) Flächen greifbar, hier wird das Amorphe, nicht Geordnete, Chaotische assoziiert, der Wildwuchs, die Heterogenität und auch das Grenzenlose, nicht mehr Fassbare und Zuzuordnende. Unser Bedürfnis nach Überschaubarkeit manifestiert sich in unseren Wertungen, dabei wiedersprechen wir diesen täglich, wenn wir in grandioser Mobilität im PKW und ICE das Überschaubare fliehen. Aber vielleicht liegt gerade in dieser Ambivalenz der Kern unserer Bedürfnisse.

2. Das beklagte Problem
Kaum ein Konsens ist leichter herzustellen als die gemeinsame Klage über den uferlosen Flächenverbrauch der Siedlungstätigkeit, über das Ausbluten der Innenstädte und die Verlagerung der Versorgung an die Stadtperipherien, über die stärker werdenden Verkehrsbelastungen und die chaotische Vielfalt amorpher Gewerbeansiedlungen, die metastasisch die Landschaft fressen. Wir beklagen eine Realität, die sich dennoch auf dem Hintergrund umfassender Planungsinstrumente - wenn auch weniger in Übereinstimmung mit ihnen - ausgeformt hat. Als Planer empfinden wir Ohnmacht, da wir seit Jahrzehnten einen Prozess miterleben, in dem eine verwaltete und verordnete Stadtplanung immer grösseres Gewicht vor den Argumenten einer räumlichen Gestaltung erhalten hat, dabei klingen uns die Leerformeln einer "geordneten städtebaulichen Entwicklung" oder neuerlich einer "nachhaltigen...Entwicklung" in den Ohren. 
Zwischen dem, was wir tun und sagen und dem, was tatsächlich geschieht , existiert eine Kluft, die grösser wird, Planungsdenken und Realität entfernen sich voneinander.

3. Politische Dimensionen
Die Politik ist sich dieser Sicht bewusst. Sie fordert im Baugesetzbuch die Einschränkung des Flächenverbrauchs, scheitert aber an der Planungsautonomie der Kommunen, die in der Verfassung verankert ist. Die Kommunen gleichen "starken und eigennützig handelnden Individuen", die ihre Interessen im Wettbewerb um Wohlergehen und Status durchzusetzen suchen. Gemeinsamkeiten sind zwar erkaufbar, werden aber bei knapper werdenden Finanzressourcen vom Staat nicht mehr zu leisten sein. Freiwillige Kooperationen sind erfolgreich, wenn Rationalisierungseffekte im gemeinsamen Abwickeln von Pflichtaufgaben erreichbar sind, und sie enden dort, wo die Eigeninteressen der Gemeinden nicht mehr genügend bedient werden. 
Die Diskussion um das Öffentliche Interesse wird zusehend zweckgebunden instrumentalisiert und oft genug für nicht klar erkennbare andere Interessen vorgeschoben.
Die vertikale Dreigliederung der Bundesrepublik Deutschland nach Bund, Ländern und Gemeinden kennt keine Durchlässigkeit mehr, inhaltliche Innovationen scheitern im Dschungel kaum noch erkennbarer Interessenverflechtungen. So haben die in den vergangenen Jahren vom Bund angestossenen Diskussionen um die Novellierung der Baunutzungsverordnung, der Bodenwertsteuer, der zeitlich befristeten Wirkung von planungsrechtlichen Festsetzungen, der Entwicklungsmöglichkeiten im Bestand, der Kooperationsmöglichkeiten der Kommunen (Städtenetze, Regionale Kooperation...), um Nutzungsmischung im Städtebau, Stadt der kurzen Wege, Soziale Stadt..... eine ungeheure Fülle innovativen Gedankengutes hervorgebracht, der praktische Verwertungseffekt dieser Bemühungen geht jedoch gegen Null und ist nur in wenigen mutigen Einzelprojekten zum Tragen gekommen. 

Wir befinden uns in einem Reformstau und ersticken in einer Verfilzung sich gegenseitig blockierender Interessen, deren gemeinsames höchstes Ziel es ist, den status quo nicht mehr zu verändern.

4. Eine neue Rolle der Stadtplanung?
Die Suche nach neuen und funktionierenden Leitbildern, die an die gewohnten Traditionen anschliessen, müssen vor dem geschilderten Hintergrund ohne Ergebnis bleiben. Die Situation schärft aber den Blick für die heutigen Rahmenbedingungen.

- In der Regionalplanung ist die Erkenntnis gewachsen, dass sich nicht die Pläne und Leitbilder, sondern die wirtschaftlich starken Interessen durchsetzen.
- Die öffentliche Planungsdiskussion wird zurückgefahren, Stadtplanung wird eher Teil kommunaler Geheimstrategien, um im kommunalen Wettbewerb und vor dem Wähler die Misserfolge ergebnisloser Bemühungen nicht eingestehen zu müssen.
- Kommunale Eigenbrötelei greift um sich, umfassende räumliche Lösungen werden nicht mehr diskutiert, das existierende Gewerbesteuerrecht zementiert die Kirchturmpolitik mit weiter um sich greifenden fatalen räumlichen Folgen.

Dagegen stehen die geänderten Verhaltensweisen der Bevölkerung, für die ihre Mobilitätsmöglichkeiten, ihr Wohlstand und ihre persönlichen Sicherheitsbedürfnisse im Vordergrund stehen:

- Ansprüche der Bürger können nur grossräumig befriedigt werden, der lokale Rahmen hat nur noch wenig Bedeutung.
- Das Wohnungseigentum erhält auch als Teil der Altersvorsorge eine immer weiter steigende Bedeutung, die Normierung und Anpassung der Ansprüche hat das eigene Wohnhaus zum Spitzenreiter der Sicherheitsbefriedigung gemacht.
- Verwaltungsgrenzen spielen für den Bürger nur noch eine Rolle, wenn es um die sozialen Transferleistungen des Staates geht
- Betriebliche Standortwahl wird nach Erreichbarkeits- und Imagebedingungen optimiert, kommunale Grenzen werden überspielt.

Stadt- und Regionalplanung haben bei reduzierten staatlichen Durchsetzungmöglichkeiten keine andere Wahl, als diese Realitäten zu respektieren. Es hat keinen Sinn, unwirksame Instrumente einzusetzen oder entsprechende Forderungen zu formulieren. Im Augenblick ist jedoch nicht absehbar, dass neue gesetzliche Instrumente geschaffen werden, die eine Veränderung der geschilderten Handlungsbedingungen erzeugen können. 
Planerisch geben die Aktionsmuster der Bevölkerung das Raster für die räumlichen Denkmodelle vor, die der Planer in Konzepte umzusetzen hat. Es wird deshalb zu seiner Aufgabe, aus diesen Bedingungen funktionierende Leitbilder zu schaffen. Die kommunalen Grenzziehungen haben unter diesen Bedingungen keine Bedeutung mehr.
Planung muss daneben unabänderlich qualitative Normen erfüllen, dabei wird der Schutz insbesondere der natürlichen Ressourcen im Vordergrund stehen. Hierfür geben die sich verschärfenden Gesetze (Einführung der UP-Richtlinie im BauGB) einen brauchbaren Rahmen ab. Es ist unter dieser Bedingung zu prüfen, inwieweit Wechselwirkungen zwischen einer restriktiveren Flächenausweisungspolitik und einer weitergehenden Bestandspolitik eintreten können. 
Damit rückt der Umgang mit dem Bestand und die Aktivierung seiner Potentiale auch in der Mittelpunkt der Stadtplanung. Sinnvollerweise sollte dann die Verkürzung gewerblicher Nutzungszyklen als Chance zur Flexibilisierung planungsrechtlicher Festsetzungen definiert werden. Denn die Entwicklungspotentiale im Gewerbebestand sind groß. Es wäre zudem unverzichtbar und nur konsequent, im Rahmen eines solchen Denkmodells die Reform des Bodensteuerrechts voranzutreiben.

Die Skizze für realitätsgerechte Planungsbedingungen erfordert vom Planer andere als gewohnte Vorgehensweisen. Neben einer engeren und als Normalfall einzuführenden Koordination der Fachbelange insbesondere der Landschafts- und der Stadtplanung sind im Sinne einer Integrierten Kommunalen Bauleitplanung die informellen Planungsansätze auszuschöpfen, die allein bei enger werdenden Handlungsbedingungen noch Perspektiven für räumliche Lösungsmodelle entwickeln können. Hier ist dann der Rahmen für das gesuchte Leitbild, das - von den örtlichen Bedingungen geprägt - auch neue räumliche Qualitäten im engen Verbund einer Stadtregion ersinnen kann. Hier kann der Begriff der Stadt als Region ein neues Bild entwickeln, das auch dazu dienen kann, schrittweise den Ablösungsprozess von der verinnerlichten europäischen Stadt als einziger Leitidee von Stadt zu fördern. 

03.06.2002